Die Weltbevölkerung wird nach Schätzungen der Welternährungsorganisation FAO bis ins Jahr 2050 auf zehn Milliarden Menschen ansteigen. Um alle ernähren zu können, benötigt es dafür 50 Prozent mehr Nahrung. Insbesondere bei den Proteinen zeichnet sich eine Versorgungslücke ab. «Ein Grossteil der Proteine, die weltweit produziert werden, landet heute im Futtertrog unserer Nutztiere. Auf lange Frist können wir uns das wohl nicht mehr leisten», sagt Alexander Mathys, Professor für nachhaltige Lebensmittelverarbeitung an der ETH Zürich. «Um effizienter mehr Menschen zu ernähren, müssen wir unseren Fleischkonsum reduzieren und vermehrt pflanzliche Proteine konsumieren.»

Nebst bewährten pflanzlichen Quellen wie Soja und Hülsenfrüchten sieht Mathys gros­ses Potenzial in Mikroalgen. Im Gegensatz zu Makroalgen sind sie so winzig, dass man sie von blossem Auge nicht erkennen kann. Seine Gruppe am «World Food System Center» der ETH Zürich forscht derzeit unter anderem daran, wie sich aus Mikroalgen Proteinnetzwerke herstellen lassen, die der Struktur von Fleisch nachempfunden sind. Eine Art Algenbratling also, der ähnlich funktioniert wie die Fleischfrikadelle. 

Finanziert wird diese Forschung vom Detailhändler Coop und geschieht unter anderem in Zusammenarbeit mit der Schweizer Firma Bühler. Letztere ist eine Spezialistin für Technologien zur Verarbeitung und Herstellung von Lebensmitteln wie Getreide oder Schokolade. Dieses Engagement zeigt auch, wie gross das Interesse der Industrie am Thema ist.

Elektrizität beschleunigt Wachstum
«Algen gehören zu den hochwertigsten pflanzlichen Proteinen, die es gibt, weil sie alle essenziellen Aminosäuren enthalten», erklärt Mathys. Ihr Proteinanteil ist mit bis zu 70 Prozent des Trockengewichts sehr hoch, zudem enthalten sie die Vitamine A, B, C, E und K, sowie die Mineralien Kalium, Kalzium, Magnesium und Eisen. Und anders als Soja, Kichererbsen und Co. brauchen sie zum Wachsen keinen fruchtbaren Boden, sondern können auch auf sonst unproduktiven Flächen gedeihen. «Um sie zu produzieren, braucht es lediglich Wasser, Kohlendioxid, ein bisschen Dünger und Sonnenlicht.»

Letzteres ist in der Schweiz ein limitierender Faktor, insbesondere im Winter. «Wärme und Licht kann man natürlich auch künstlich zuführen, aber das braucht sehr viel Energie», sagt Mathys. In einem ihrer Projekte ver­suchen die ETH-Forscher, Mikroalgen mit­hilfe von Hochspannungsimpulsen schneller wachsen zu lassen. «Das sind nur sehr kleine Energiemengen von einigen Joule pro Kilogramm, mit denen wir die Algen behandeln. Aber sie scheinen dadurch schneller zu wachsen und mehr Proteine zu produzieren.» Um die Mechanismen dahinter zu verstehen, sei jedoch noch mehr Forschung nötig. Momentan sei man noch relativ weit weg von einer nachhaltigen, konkurrenzfähigen Produktion von Mikroalgen in der Schweiz. Wäre es anders, läge das Thema aber nicht auf Mathys’ Schreibtisch. «Wir erforschen die Nahrungsmittel der Zukunft.»

Algenanbau in der Fischzucht
«Wenn man schaut, wie viel hier die Sonne scheint, ist die Schweiz natürlich nicht das Top-Land, um Algen anzubauen», sagt auch Dominik Refardt, der an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) seit sechs Jahren zu Mikroalgen forscht. In wärmeren Ländern wie Spanien, Portugal und Amerika dagegen gebe es schon Forschungsgruppen und Start-ups mit viel mehr Erfahrung. Doch auch er sieht in den Algen Potenzial. «Mit der wachsenden Weltbevölkerung und unserem Ressourcenbedarf müssen wir in Zukunft lernen, vermehrt in Kreisläufen zu denken. Und hier können sich Algen wahnsinnig schön einfügen.»

Nischen für Algenzucht in der Schweiz sieht er insbesondere im Zusammenhang mit der aufkommenden Fischzucht, die ein anderer Schwerpunkt seiner Forschungsgruppe ist. «Die erste Frage, wenn es um die Errichtung einer neuen Anlage geht, ist immer: Wohin mit dem Abwasser?» In Versuchen im Algenreaktor an der ZHAW haben die Forschenden Schritt für Schritt Komponenten des Düngers weggelassen und stattdessen Abwasser aus einem der Fischbecken eingeleitet. «Und wir haben gesehen, dass es klappt. Die Algen reinigen das Abwasser, und man kann erst noch auf Dünger für die Algen verzichten.» In weiteren Projekten wollen die Forscher das Thema Algen und Abwasser vertiefen.

Eine weitere Nische ortet Refardt in der Aufzucht von Jungfischen, die in den Wochen nach dem Schlüpfen sehr anspruchsvoll sind. Viele brauchen Lebendfutter in Form kleiner Krebschen, die wiederum gefüttert werden müssen. «Mit den richtigen Algen ernährt, könnten wir dieses Lebendfutter für Jung­fische möglicherweise wertvoller machen und deren Mortalität reduzieren. Verlässlich und in hoher Qualität produziert, könnten Mikroalgen also auch hier ein gefragtes Produkt sein», sagt Refardt.

Spirulina-Blau für Smarties und Glace
Ein gefragtes Nischenprodukt sind auch Nahrungsmittelzusätze aus Mikroalgen. Einer kommt laut Mathys seit Jahren in der Nahrungsmittelindustrie zum Einsatz: Ein blauer Farbstoff gewonnen aus Mikroalgen der Gattung Spirulina, bei denen es sich streng genommen um Cyanobakterien handelt. Spirulina-Blau steckt etwa in blauen Smarties, blauen Gummibärchen oder blauer Glace, die ohne chemische Zusätze gefärbt wurde. «Spirulina-Blau ist der einzige natürliche blaue Lebensmittelfarbstoff, den es gibt. Sein Wert ist entsprechend hoch», sagt Mathys.

In den letzten Jahren haben immer mehr Tabletten oder Pulver aus Spirulina oder echten Mikroalgen wie Chlorella den Weg in unsere Reformhäuser, Drogerien und Supermärkte gefunden. Derzeit stammen die Mikroalgen für diese Produkte noch vorwiegend aus China, Indien oder Kalifornien. Doch das könnte sich ändern. Letztes Jahr startete im Jura eine Familie mit der Produktion von Spirulina. Dafür gab es eine Nomination für den agroPreis 2017.