Frau Gyssler, ein Wald ohne Tiere – was löst diese Vorstellung bei Ihnen aus?
Eine solche Situation ist undenkbar! So weit darf es nicht kommen. Die grosse Mehrheit der Landtiere ist vom Wald abhängig – und umgekehrt. Ohne Tiere werden keine Pflanzen bestäubt oder Samen der Bäume weiter getragen. Dadurch kann sich der Wald nicht ausdehnen oder verjüngen. Und auch aus Sicht des Klimaschutzes wäre eine solche Entwicklung verheerend. Ohne Tiere sinkt die Fähigkeit des Waldes Kohlenstoff zu speichern.

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Zur Person
Corina Gyssler ist Kommunikationsberaterin im Bereich «Konsum, Wirtschaft und Internationale Projekte» beim WWF Schweiz. 

Welche Folgen hätte sie?
Mit dem Wald verschwindet schon jetzt einer der wichtigsten Kohlenstoff-Speicher der Erde. Der Druck auf ihn ist ja ohnehin schon gross, unter anderem durch die zunehmende Trockenheit und die immer heisseren Temperaturen. Im Gegensatz zu Tieren sind Bäume aufgrund ihrer Langlebigkeit und Standortgebundenheit von klimatischen Veränderungen besonders betroffen. Bäume und Pflanzen haben teilweise schon die Möglichkeit, sich weiter nach Norden oder in höher gelegene Regionen zu verschieben. Aber das dauert im Gegensatz zu Tieren, die Beine oder Flügel haben, Jahrzehnte und länger. Und das ist mit der zunehmenden Erderwärmung einfach zu langsam.

Welche Rolle spielt der Mensch in dieser Entwicklung?
Er ist für die Entwaldung verantwortlich, indem er Wald rodet oder in landwirtschaftliche Flächen und Weidegebiete umwandelt. Vor diesem Hintergrund ist die aktuelle Studie über das Verschwinden der Tierbeständen in den Wäldern umso dramatischer.

Ist es denkbar, dass sie sich erholen?
Ja, Waldtiere können sich durch richtige Massnahmen wieder erholen. In Ost- und Zentralafrika etwa haben sich die Gorillas wieder in den Wäldern verbreitet, nachdem unter anderem die Wilderei aufgehört hat. Dasselbe gilt für die Kapuzineräffchen in Costa Rica. Auch deren Bestand hat sich erholt. Doch nicht überall auf der Welt sieht es natürlich so positiv aus.

Was heisst das konkret?
In unserer Studie «Below The Canopy» haben wir die Daten von 268 Wirbeltierarten und 455 Populationen untersucht, die in Wäldern leben und vollständig von ihnen abhängig sind. Die Auswertung ergab, dass die Bestände seit 1970 durchschnittlich um mehr als die Hälfte, teilweise sogar um rund 60 Prozent zurückgegangen sind. Deshalb fordern wir die Staatengemeinschaft auf, den Wald-Notstand zu erklären.

Was bedeutet das?
Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir handeln müssen - es braucht einen «New Deal» für Mensch und Natur. Ziel muss sein, die Klimakrise zu stoppen und die verbleibenden Naturräume der Erde zu erhalten. Beide Themen gehören zuoberst auf die Agenden der Staats- und Regierungschefs.

Eine knifflige Aufgabe, mit Blick auf die politische Weltkarte.
Richtig. Um die Wälder zu erhalten, sind Fortschritte beim Pariser Klimaabkommen und den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung wichtig. Zudem braucht es klar definierte Meilensteine bei der Aushandlung neuer Zehnjahresziele beim Übereinkommen über die biologische Vielfalt (CBD). Derzeit sind Regierungen in verschiedenen Gebieten der Welt an der Macht, die wirtschaftliche Interessen über den Erhalt der Wälder und den Klimaschutz stellen.

Was kann eine Umweltorganisation wie der WWF dagegen unternehmen?
Unsere Aufgabe ist es, den Wert der Natur, der Ozeane, der Wälder und allem, was darin lebt, aufzuzeigen. Unsere Aufgabe ist es, die Menschen aufzurütteln und auf die Missstände aufmerksam zu machen, die zum Verschwinden der Arten und zur Klimaerwärmung führen.

Spielen Sie auf Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro an, der den Regenwald zugunsten der Landwirtschaft immer rascher abholzen lässt?
Auch. Auf solche Länder kann Druck ausgeübt werden, wenn sich Staaten zusammen schliessen. Beispielsweise bei den Verhandlungen um das Freihandelsabkommen Mercosur, wo bei den Sozial- und Umweltstandards nachgebessert werden muss. Hier können die Staaten deutlich machen, dass es nicht nur um Geld, sondern um eine wertebasierte Zusammenarbeit geht.

Gerade am Dienstag hat nach Deutschland hat auch Norwegen angekündigt, Millionen Finanzhilfen an Brasilien im Kampf gegen die Rodung des Amazonas-Regenwaldes auf Eis zu legen. Warum ist der Erhalt der «grünen Lunge der Welt», wie Brasiliens Regenwälder auch genannt werden, so wichtig?
Der Amazonasregenwald ist der grösste Regenwald der Erde. Er übernimmt als CO2-Speicher im Klimaschutz eine zentrale Rolle. Ohne seinen Erhalt werden wir unsere Klimaziele nicht erreichen. Rund 13 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen stammen aus der Vernichtung von Wäldern. Die gute Nachricht ist: Die meisten Flächen, auf denen Regenwald geschädigt oder gerodet wurde, können innerhalb von nur fünfzehn Jahren wieder ein geschlossenes Blätterdach entwickeln. Das bedeutet, dass der Wald nach dieser Zeit wieder vor Austrocknung und Bränden geschützt ist und den Niederschlag so regulieren kann wie vor der Rodung. Aus diesem Grund engagiert sich der WWF an allen wichtigen internationalen Konferenzen und Treffen für den Klima- und Waldschutz.

Und wie ist es um die Artenvielfalt in den Schweizer Wäldern bestellt?
Vielen in den Wäldern lebenden Arten geht es besser als jenen ausserhalb. Bei Letzteren sieht es weit weniger rosig aus. Die Zersiedelung der Gebiete, der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft und die überhöhten Stickstoffeinträge haben zu einem extrem starken Artenrückgang geführt. Auch da ist ein Umdenken dringend nötig.