Angefangen hat alles mit einem Rind, das Nicolas und ich von meinen Eltern zur Hochzeit geschenkt bekommen haben», sagt Esther Mottier. 2010, also fünf Jahre später, übernahm das tier- und naturverbundene Ehepaar den Hof von Nicolas Mottiers Eltern, einige Zeit darauf noch zwei weitere Nachbarbetriebe.

Die Vision der umtriebigen und nach biodynamischen Grundsätzen arbeitenden Mottiers erweitert die Herstellung von Lebensmitteln. Ihnen schwebt vor, einen Ort zu erschaffen, an dem Menschen, Tiere und die Natur miteinander verwoben sind und sich wohl fühlen. «Wir wollten unseren Hof für Gäste öffnen und unseren Bioladen und meine Naturheilpraxis, die verstreut im Dorf liegen, unter einem Dach zusammen bringen», so Esther Mottier.

Der Zufall wollte es, dass in dem Moment, als die junge Bauernfamilie über ihr nachhaltig gestaltetes Zukunftsprojekt sinnierte, Charles André Ramseyer das Amt als Gemeindepräsident übernahm. Ramseyer war zuvor als Tourismusdirektor des Kantons Waadt tätig gewesen und klar der Meinung: Diese Ausgangslage bietet Raum zu mehr als dem damals angedachten kleineren, traditionellen Tourismusprojekt. «Was, wenn wir den Faden weiterspinnen und es wagen,wirklich ganzheitlich zu denken, begannen wir uns dann, angeregt von der Unterstützung unseres Gemeindepräsidenten, zu fragen», berichtet die gebürtige Simmentalerin.

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Kühe als Gastgeberinnen

Ein visionäres Gesamtprojekt mit dem klingenden Namen «Votre Cercle de Vie», das Veränderungen im ökologischen Bereich unterstützen will, war geboren. Auf den Skizzen und Bauplänen, die Esther Mottier präsentiert, ist ein mehrstöckiges Holzgebäude zusehen. Bei diesem überrascht nicht nur die Form, die sich mit der organischen Bauweise und dem bewachsenen Dach in das hügelige Gelände einfügt, auch der Inhalt lässt staunen.

Das Erdgeschoss ist für die 38 Simmentalerkühe und ihr Jungvieh reserviert. «Der Stall mit den Ausläufen ist das Herzstück des Gebäudes, denn die Kuh ist die Gastgeberin und steht im Zentrum», erklärt die Landwirtin und Naturheilpraktikerin. Bereits in der «Kuhetage» wird das ganzheitliche und nachhaltige Konzept sichtbar. Aufgebaut ist dieses auf den Bereicherungen, die die Kuh den Menschen zur Verfügung stellt.

Der erste und auch bekannteste Bereich ist die Herstellung und Verwendung von Lebensmitteln. Hinzu kommt der Dünger, der als Humus und zur Produktion erneuerbarer Energien verwendet wird. Und die Kuh fördert mit ihrem Wesen soziale Kontakte und verbindet Mensch und Natur miteinander. «Ein besonderes Augenmerk im Projekt liegt in der Anerkennung dieses so wichtigen Tieres für unsere Gesellschaft», so Mottier.

Der Stall soll mit zahlreichen Gemüse-, Obst- oder Kräuterpflanzen begrünt sein, Strom und Warmwasser werden mithilfe einer Biogasanlage erzeugt, die den Mist verwertet, und die Mitte des sechseckig angelegten Stalls steht allen Gästen als Meditations- oder auch Veranstaltungsraum zur Verfügung. Ziel ist es, den Kunden transparent eine nachhaltige Landwirtschaft näher zu bringen und Themen wie den Verzehr von Fleisch, dessen Menge und Herkunft zu erörtern und die Behornung der Kühe und ihr Hierarchieverhalten zu erklären. Dies spiegelt sich im geplanten hybriden Stallsystem mit Anbindehaltung in Kombination mit dem Auslauf auf der Sonnenterrasse. Anzunehmen ist, dass die Anbindehaltung der Kühe einen Diskurs zwischen den Gästen und Gastgebern anregen wird.

Im ersten Stock ist die Küche, wo die Bio-lebensmittel verarbeitet werden, welche grossteils von den eigenen Tieren, Gewächshäusern und Permakulturgärten oder aber regionalen Lieferanten stammen. Fünf Glastische im Restaurant geben die Sicht auf die Rinder frei. «Diese Aussicht ist uns wichtig, denn wir müssen lernen, wieder Verantwortung für unsere Entscheidungen und Handlungen zu übernehmen», sagt Esther Mottier. Ob bei dieser Perspektive zahlreiche Gäste das Rinderfilet bestellen, wird sich zeigen.

Die darüber liegenden Etagen beherbergen ganze 22 Zimmer im Vier-Stern-Superior-Standard. Thematische Einrichtungen bringen kulturelle und historische Aspekte aus der Region ins Haus und sind mit restaurierten und verkäuflichen Möbeln bestückt, die dem Kreislaufkonzept von Umwandlung und Wiederverwendung entsprechen.

Ein zweites Gebäude beherbergt einen Bioladen und zahlreiche Räume, die für das Gesundheitsangebot reserviert sind und wo Seminare abgehalten werden können. Die sich um die beiden Gebäude erstreckenden Aussenanlagen sind nicht nur den Gästen, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich. Hier, mit Garten-, Kleintier- und Kneippanlagen, schliesst sich der Kreis der drei Pfeiler des Projekts.

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Ein Organisationstalent

Bei einem so umfassenden Projekt stellen sich erst einmal die Frage der Planung. Esther Mottier, die alle Fäden in der Hand hält und die treibende Kraft hinter «Votre Cercle de Vie» ist, erzählt von Hunderten bisher abgehaltenen Sitzungen und 21 involvierten Ämtern. Die Umzonung von Landwirtschafts- in Tourismuszone ist für so komplexe Projekte eine entscheidende Hürde, die zehn Jahre in Anspruch nahm.

Mittlerweile hat sich ein 15-köpfiges Team um die Mottiers formiert, das nebst dem laufenden Betrieb von Landwirtschaft und den Bioläden das Sponsoring, die Kommunikation und in einem eigens gegründeten Architekturbüro sogar die Konstruktion organisiert. «Wir sind zu einem Pionierprojekt geworden, was Aufmerksamkeit von anderen Institutionen auf uns lenkt.» Mittlerweile sind sowohl die Lausanner Hotelfachschule als auch die Berner Fachhochschule involviert. Zahlreiche Partnerschaften sind entstanden und Firmen wie Romand Energie unterstützen das Projekt. «Nach rund zwölfjähriger Planungsphase stehen wir momentan vor der Einreichung der Baueingabe.

Bisher haben wir Arbeit im Wert von drei Millionen Franken umgesetzt», so Mottier. Auf 43 Millionen sind die Gesamtkosten budgetiert. Um diesen Betrag zu stemmen, braucht es auch hier ein vielfältiges Netzwerk. Das Team hofft auf rund einen Drittel öffentliche Gelder, 17 bis 20 Prozent der Gelder sollen von Banken stammen und der Rest über Firmensponsoring,Stiftungen und private Personen generiert werden.

Das Tourismusprojekt bringt 58 Arbeitsstellen in das 2400-Seelen-Dorf. «Vordergründig zeigen sich viele Einwohner begeistert, aber mit Sicherheit gibt es auch kritische Stimmen», ist sich die Initiantin bewusst. Bleibt zu hoffen, dass nicht zu viele der Anwohnenden im Riesenprojekt ein zu grosses Wagnis oder gar eine Art Bedrohung sehen und den im Frühling 2024vorgesehenen Baustart mit Einsprachen blockieren.