Der Hoatzin ist anders. Er fliegt schlecht, verströmt einen eindringlichen Duft, Junge haben Krallen an den Flügeln und lassen sich absichtlich ins Wasser fallen.

Es gibt kaum einen anderen Vogel, der Systematiker so sehr beschäftigt. Ist er ein Bindeglied zwischen den Vögeln und den Dinosauriern, gehört er zu den Fasanen, den Kuckucksvögeln oder doch eher zu den afrikanischen Turakos? Bis heute gibt es keine Antwort auf diese Fragen. Weil der Hoatzin nirgendwo so richtig ins zoologische System passt, wurde ihm die eigene Gattung Opisthocomus zugeteilt.

Der Hoatzin lebt an abgeschiedenen Gewässern im Amazonasbassin. Zum Beispiel im Tieflandregenwald des peruanischen Departamento Madre de Dios. Dort gleitet lautlos ein Holzboot über einen Altwassersee. Plötzlich ein Planschen und Glucksen: Ein Riesenotter taucht aus den bernsteinfarbenen Fluten auf. Derweil scheint sich im Uferbereich ein Tumult abzuspielen. Schnarren und Fauchen. Als das Boot näher herangleitet, sind orange-braune, hühnergrosse, flatternde Vögel mit Schopf und langem Schwanz im Geäst zu erkennen.

Wie der Archaeopteryx

«Hoatzins», wispert Edwin Salazar Zapata. Der peruanische Biologe erklärt: «Sie leben in Kolonien am Gewässer und ernähren sich von Pflanzen.» Die Sonne steht bereits tief. Aras krächzen, Oropendolas oder Stirnvögel singen Melodien und krallen sich an ihre beutelartigen Nester, die an Zweigen der Ameisenbäume baumeln. Eine friedliche Stimmung, nur die Hoatzins scheinen aufgeregt zu sein. «Das ist normal, sie sind kurz vor Einbruch der Dämmerung immer aktiv», flüstert der Ornithologe. Plötzlich fliegen zwei Hoatzins schwerfällig über das Gewässer und landen unbeholfen in der Vegetation am gegenüberliegenden Ufer. Ihre Silhouetten im Abendlicht wirken markant. «Hoatzins fliegen nie weite Strecken», kommentiert Edwin Salazar Zapata die Szenerie.

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Hoatzins haben, im Vergleich zu anderen Vögeln, einen enorm vergrösserten Vorderdarm. Damit er Platz hat, sind Brustbein und Flugmuskulatur stark reduziert. Der Hoatzin ist zwar ein Vogel, doch er funktioniert wie ein Wiederkäuer. Er verdaut seine Pflanzennahrung nicht im Magen, sondern im Kropf und in der unteren Speiseröhre, die Teil des Vorderdarms ist. Keine andere Vogelart hat ein solches Verdauungssystem. Die Nahrung besteht hauptsächlich aus Pflanzenblättern, Blüten und wenig Früchten. Vermutlich auch darum, sondern manche Hoatzins einen penetranten Geruch ab.

«Dort, ein Junges», raunt Edwin Salazar Zapata, sein Feldstecher ins Gebüsch über dem Wasser gerichtet. Junge hätten, wie der Archaeopteryx, der Urvogel, Krallen an den Flügeln. «Sie fallen ab, wenn sie älter sind.» Wozu diese Krallen sind, zeigt sich gleich. Der Jungvogel fällt von der Nestplattform, die aus einer Anordnung aus wirren Zweigen besteht. Mit ausgebreiteten, halb-nackten Flügeln zieht er sich an den Ästen wieder hoch – dank der Krallen an den Flügeln. Der ornithologische Führer erklärt, dass sich die Jungen bei Gefahr auch ins Wasser fallen liessen, dass sie tauchen könnten und dann dank der Krallen an den Flügeln wieder im Geäst hochkletterten.

Das Schnarren ist verstummt, die Sonne hinter der Kronenschicht verschwunden, die Nacht legt sich über den See. Die Vögel, die kein Zoo hält, schlafen, während um sie der Choral der Insekten hallt.