Ginge es nach René Studer, würde im Winter auf Schweizer Strassen, Trottoirs und Wegen kein Auftausalz ausgebracht, sondern CMA. Die Abkürzung steht für Calcium-Magnesium-Acetat, eine aus Dolomitstein und Essigsäure gewonnene organische Verbindung, die Eis zum Schmelzen bringt. «Im Unterschied zu Salz ist CMA umweltfreundlich», sagt Studer. Es tönt zunächst nach Eigenwerbung. Schliesslich vertreibt der Geschäftsführer von Vulkatec Schweiz seit 2016 selbst ein CMA-haltiges Granulat aus Bimsstein. Es trägt die europäischen Ökolabels Blauer Engel und Nordischer Schwan. Das Problem: Acetate wie CMA sind als Auftaumittel auf Schweizer Strassen nicht zugelassen.

Dies mag erstaunen. Denn in Skandinavien und Amerika kommt das Mittel seit längerer Zeit zum Einsatz und ist daher auch gut untersucht. So initiierte die US-amerikanische «Federal Highway Administration» bereits in den 1970er-Jahren ein Forschungsprogramm mit dem Ziel, umweltfreundliche Alternativen zu Auftausalz zu finden. Eine davon war CMA. Es folgten Studien und Feldversuche in mehreren Bundesstaaten in den 1980er-Jahren. Sie bestätigten, worauf schon frühere Forschungsarbeiten hingedeutet hatten: CMA korrodiert keine Metalle, verursacht keine Schäden an Strassenbelägen und schont die Natur. Namentlich konnten keine negativen Auswirkungen auf Pflanzen, Tiere, Böden oder den Menschen festgestellt werden. Einzig bei kleinen Stehgewässern wie Teichen reichten schon geringe Mengen an CMA, um den Sauerstoffgehalt drastisch zu reduzieren, was die Unterwasserflora und -fauna in Mitleidenschaft ziehen kann.

Salz ist auf Flughäfen tabu
Andreas Buser von der Sektion Industriechemikalien beim Bundesamt für Umwelt (Bafu) kennt die Problematik. Er verweist diesbezüglich auf einen 2017 erschienenen Bericht zur Risikoabschätzung der Umweltrelevanz organischer Auftaumittel: «Dieser kam zum Schluss, dass Acetate wie CMA zu einem hohen Eintrag an gelöstem organischem Kohlenstoff in die Gewässer und damit zu einer hohen Sauerstoffzehrung führen.» Ein grossflächiger Einsatz auf National- und Kantonsstrassen sowie in Siedlungsgebieten sei daher aus Gewässerschutzsicht nicht möglich.

Keine Regel ohne Ausnahme. Denn auf Flughäfen sind Acetate wie CMA zugelassen, genauso wie Formiate, Harnstoff und Alkohole. «Die Sicherheitsanforderungen für Flugplätze sind sehr hoch, sodass die Verwendung dieser Auftaumittel einem Bedürfnis in der Praxis entspricht», sagt Buser. Aufgrund der geringen Einsatzmengen im Vergleich zum Gesamtverbrauch von Auftaumitteln in der Schweiz seien deren Umwelteinträge aus Gewässerschutzsicht jedoch vertretbar. 

CMA gehört trotzdem nicht zum Standard. Der Flughafen Zürich etwa nutzt für die Enteisung von Verkehrsflächen wie Start- und Landebahnen vor allem das Kaliumsalz der Ameisensäure (Kaliumformiat). Dessen Vorteil, sagt Mediensprecher Philipp Bircher, sei die geringe organische Belastung und die sehr gute biologische Abbaubarkeit. «Der Einsatz von Streusalz wie auf den Strassen ist wegen der korrosiven Wirkung auf Flugzeuge nicht zulässig.» Ebenfalls gut abbaubar und zudem rezyklierbar sei Propylenglykol, das für die Enteisung von Flugzeugen eingesetzt werde. Gewässerschutz brauche es trotzdem: «Deshalb werden die Abwässer am Flughafen Zürich entsprechend behandelt», sagt Bircher.

Sparsamer Einsatz, mehr Verbrauch
Auf den Strassen selbst ist Salz noch immer das Streumittel Nummer eins. Gemäss dem Wasserforschungsinstitut Eawag beträgt der jährliche Verbrauch in strengen Wintern 300 000 bis 350 000 Tonnen. Pro Anwendung werden 10 bis 15 Gramm pro Quadratmeter ausgetragen. Vor 50 Jahren waren es noch 60 Gramm. Ein Grund für den Rückgang ist die heute weitverbreitete Feuchtsalztechnologie: Statt Trockensalz wird eine Salzsole verspritzt. Manche Streudienste mischen ihr noch den Zusatzstoff «Safecote» bei, eine biologisch abbaubare Melasse, die ein Abfallprodukt aus der Rohrzuckerherstellung ist. Zudem, sagt Andreas Buser vom Bafu, werde Salz auch dank Fahrbahndetektoren, Stras­senwetterstationen und Freiflächenheizungen gezielter ausgebracht als früher. Und doch nimmt der Schweizer Gesamtsalzverbrauch seit Jahren zu. Laut Eawag ein Hinweis darauf, dass offenbar häufiger und auf mehr Flächen gesalzen wird. 

Die Folgen für die Umwelt sind hinlänglich bekannt. Auftausalz kann über Verwehungen, Gischt, zur Seite geräumten Schnee und Schmelzwasser in die Böden gelangen und die Vegetation nachhaltig schädigen. In deutschen Städten zum Beispiel, das haben frühere Untersuchungen ergeben, ist jeder zehnte Baum derart salzgeschädigt, dass er daran eingehen wird. Ebenfalls von Auftausalz betroffen sind Gewässer. Laut Eawag reagieren die kleineren Mittellandseen sowie Fliessgewässer am empfindlichsten. Jedoch würden sich die Konzentrationen in Bereichen bewegen, die unkritisch seien. Auch im Grundwasser werde das eingetragene Salz schnell verdünnt.

Stellt man nun das Salz dem CMA gegenüber, so muss man schlussfolgern, dass aus ökologischer Sicht beide ihre Vor- und Nachteile haben. Sobald es aber um die Zulassung geht, scheint der Gewässerschutz in der Schweiz höher gewichtet zu werden als der Boden- und Pflanzenschutz. Aus wirtschaftlicher Sicht dagegen ist der Fall klar: CMA ist fast acht Mal so teuer wie Salz. Für René Studer von Vulkatec Schweiz trotzdem kein Argument: «Das Salz kostet uns am Ende mehr, denn die Folgeschäden der Salzstreuung an Autos, Infrastruktur und Umwelt gehen in die Milliarden.» Wie hoch die Kosten effektiv sind, lässt sich nicht eruieren. Dazu gibt es keine umfassenden Zahlen. 

Splitt ist keine Alternative
Studer glaubt auch zu wissen, warum: «Es geht ums Geld. Die Kantone sind Eigentümer der Schweizer Salinen und haben das Salzmonopol. Zudem entscheiden sie, wann, wo und wie Auftaumittel zum Einsatz kommen.» Es sei für ihn also logisch, dass nichts unternommen werde, was das Salzgeschäft gefährden könnte. «Als ich unser Streugranulat lancierte, wurde ich wegen des CMA-Verbots sogar angezeigt», sagt Studer. Verkaufen darf er es heute trotzdem. «Wir bekamen die Erlaubnis, nachdem wir den CMA-Gehalt auf einen Wert reduziert hatten, der gesetzlich völlig unproblematisch ist.»

Lässt man Salz, CMA und alle anderen chemischen Verbindungen beiseite, bleiben als Alternativen vor allem abstumpfende Streumittel übrig. Am bekanntesten ist Splitt. Dieser ist gemäss diverser Studien jedoch oft mit Öl, Gummiabrieb, Schwermetallen und Stras­senabfällen verunreinigt. Entsprechend muss er, einmal gebraucht, in einer Reaktordeponie gelagert oder für eine erneute Verwendung aufwendig aufbereitet werden. Zudem verstopft Splitt die Kanalisation und gefährdet durch aufgewirbelten Staub die Gesundheit. Diese Nachteile gelten zum Teil auch für Sand, Kies, Blähton, Holzschnitzel und Ähnliches. Ein gänzlich unproblematisches Streumittel muss also erst noch erfunden werden. Am umweltfreundlichsten bleibt denn auch, gar nicht zu streuen.