Heini Hediger (30. November 1908 – 29. August 1992) gab den Tieren eine Stimme, verabscheute es aber, sie zu vermenschlichen. Er erforschte ihre Verhaltensweisen und revolutionierte die Tierhaltung in zoologischen Gärten. Er setzte sich intensiv mit dem tierlichen Bewusstsein, dem Wesen des Tiers, seiner Art zu leben und dem sozialen Bedürfnis auseinander und näherte sich dem Tier nicht als Rechner und Statistiker, sondern als Beobachter.

Raumqualität geht über -quantität

Er kam zur Erkenntnis, dass Tiere in einem starken Raum-Zeit-System leben und also auch in der Natur nicht einfach in den Tag hineinleben. Heini Hediger prägte den Begriff Psychotop, der besagt, dass Tiere und Menschen nicht nur physiologisch und ökologisch an ihren Lebensraum angepasst sind, sondern auch psychologisch. Das heisst: Wer im Wald lebt, fühlt sich unsicher ausserhalb, wer in offenem Gelände lebt, erhält Probleme nach mehr als drei Tagen im Wald. So stellte er klar: Tiere brauchen keine Ferien und gehen nicht mal so zur Freude auf Entdeckungsreise. Hediger strich die Raumqualität eines Geheges hervor, die entscheidender als die Raumquantität sei.

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Dass moderne Zoos Tiere in ihrem dem Lebensraum nachempfundenen Anlagen zeigen, ist heute normal. Die vor zwanzig Jahren eröffnete Masoala-Halle im Zürcher Zoo ist eine Glanzleistung moderner Zooarchitektur und vermittelt seither Abertausenden von Besucherinnen und Besuchern ein Tropengefühl. Vor dreissig Jahren verstarb im Alter von 83 Jahren ein Mann, der Visionen hatte, die der Masoala-Halle ähnlich kamen. «Hediger hat bereits in seinem 1977 veröffentlichten Buch ‹Zoologische Gärten Gestern – heute – morgen› von grossen begehbaren Freigehegen geschrieben», sagt Peter Dollinger. Der Tierarzt und spätere Direktor des Weltverbandes der Zoos und Aquarien (WAZA) hat 1971 bei Heini Hediger seine Dissertation «Tod durch Verhalten bei Zootieren» verfasst. Dollinger streicht heraus: «Hediger stiess den Prozess von der reinen Zurschaustellung von Tieren zur biologischen Haltung an. Was Zoos anbelangt, war er ein Visionär.» Vieles habe er als Erster entwickelt. Seine Theorien seien heute noch aktuell.

Abgegrenzte Tierlebensräume

Als der 1908 in Basel geborene Heini Hediger im Kinderwagen in den Basler Zoo geschoben wurde, lebten dort meist Einzeltiere in nackten Käfigen und Gehegen. Die regelmässigen Zoobesuche waren Höhepunkte in seinem Leben. Sein Berufswunsch «Zoodirektor» äusserte er bereits als Kind. Später war er besonders vom 1911 erbauten Antilopenhaus im Basler Zoo fasziniert, insbesondere vom ineinandergreifenden System von Türen, die es ermöglichten, die Bewohner wie Giraffen, Anoas oder Capybaras durch einen ringsum führenden Gittergang von den Innenboxen in die Aussengehege zu lassen. Unbewusst fühlte sich Hediger schon damals vom Verhalten der Tiere, deren Schwellenangst, dem Raumwechsel und, wie er später schreibt, «vom unbiologischen Charakter der Türe», fasziniert – Themen, die er als Zoologe vertiefte und aufgrund seiner Beobachtungen in der Natur und der Zoohaltung durch natürliche Elemente löste.

Ein Paradebeispiel dafür war das ehemalige Afrika- und heutige Australienhaus des Zürcher Zoos, in dem Spitzmaulnashörner und Flusspferde in Symbiose mit Rotschnabel-Madenhackern und Kuhreihern gehalten wurden. Mit den Rotschnabel-Madenhackern gelang in Zürich sogar die Welterstzucht, mit den Spitzmaulnashörnern die Schweizer Erstzucht. In den Innengehegen gab es keine Ecken, der Boden war gewölbt, die Ausgänge bestanden aus runden Öffnungen, wo die Nashörner knapp durchpassten. Darum blieben die Madenhacker auch nicht auf den Kolossen sitzen, wenn sie nach draussen gelassen wurden, sondern flogen vor dem Hindernis weg und blieben somit im Haus. Die Flusspferde trotteten über eine einem Flussufer nachempfundene Senke in ihr Bassin, und nicht etwa über eine Treppe. Sie sei eine rein menschliche Erfindung, sagte Hediger, nirgendwo in der Natur käme sie vor.

Vier-Säulen-Prinzip der Zoos
Moderne Zoos gründen auf vier Säulen: Erholung, Bildung, Forschung und Naturschutz. «Das geht auf Heini Hediger zurück», sagt der ehemalige Direktor des Weltzooverbands Peter Dollinger. Hediger habe diese Forderung aufgestellt und die Zoos, in denen er tätig war, entsprechend positioniert. Das sei heute längst eine vom Weltzooverband geforderte Richtlinie.

Nach einer quälenden Schulzeit studierte Hediger Zoologie an der Universität Basel, belegte aber auch Fächer wie Psychologie, Botanik, Ethnologie, Geo-graphie, Geologie und Astronomie. Er bezeichnete diese Zeit als Larvenzustand. Erste Reisen führten ihn nach Südfrankreich und Marokko, wo er Tiere sammelte, wie beispielsweise eine Treppennatter auf der Insel Porquerolles. Erstmals wurde ihm mit neunzehn Jahren klar, wie streng Lebensräume gegen-einander abgegrenzt sind. Er traf in den Mauerritzen und Schiessscharrten des Ruinenkomplexes Chellah ausserhalb von Rabat in Marokko auf eine Vielfalt von Arten wie Perleidechse, Glattechse und Hufeisennatter, die alle unterschiedliche nebeneinander liegende Höhlungen bewohnten. Hediger schrieb, dass diese Biozönose von Chellah für ihn zu einem Leitbild, zu einem Muster wurde, dem er im Prinzip auf allen Erdteilen, vor allem auch in der Südsee, immer wieder begegnet sei. Peter Dollinger sagt zu diesem Thema: «Hediger war der Erste, der sich über Territorien und deren Umsetzung im Zoo Gedanken machte.»

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Verwalter in Bern, Direktor in Basel

Schon als Student konnte Hediger mit dem Ethnologen Felix Speiser in die Südsee reisen. Seine Dissertation mit dem Titel «Beitrag zur Herpetologie und Zoo-geographie Neu Britanniens und einiger umliegender Gebiete» fusste auf Forschungen während der Ozeanien-Reise. 1938 wurde er im damals neu gegründeten Tierpark Bern als Verwalter angestellt. Dort lernte er den Wärter Werner Schindelholz kennen, den er sehr schätzte und für den er sich auch bei den Behörden einsetzte, weil er ein hervorragender Tierkenner war. Als Zoodirektor hatte Hediger nicht nur mit Tieren, sondern besonders auch viel mit Menschen zu tun. So erfuhr er in Bern mit Befremden, dass das Fleisch als überzählig abgeschossener Bären den Stadtoberen vorbehalten war, und stellte in diesem Verhalten Vergleiche zu Riten natürlich lebender Völker der Südsee her. In Bern heiratete Hediger die Zoologin Käthi Zurbuchen und wurde zum ausserordentlichen Professor berufen. Er wohnte im noch heute vorhandenen Ökonomiegebäude des Tierparks direkt an der Aare, folgte dann aber einem Ruf als Direktor des Zoos Basel. Ihn lockten die Exoten, die in Bern fehlten.

«Der Wechsel war für Hediger ein Abstieg, da der Zürcher Zoo kleiner war.»

Als Direktor des Basler Zoos reiste er als Experte für sechs Monate in den damaligen Belgisch-Kongo, wo er Tiere in Nationalparks und deren Reaktionen gegenüber Menschen beobachtete und analysierte und unternahm eine mehrwöchige Zooreise in die USA. Hedigers Reisen und zahlreiche Kontakte zu Persönlichkeiten aus der Zoowelt führten zu Innovationen in zoologischen Gärten und zur Ernennung zum Ehrendoktor. Die Zoo-Apéros für Journalisten, die sich bis heute bewährt haben, sowie das besucherfreundliche Beschriftungssystem gehen auf Hediger zurück. Sein Engagement und seine Publikationstätigkeit machten ihn weltweit zu einer Persönlichkeit.

Hedigers Erkenntnisse sind aktuell

Hediger war ein eigener Charakter und hatte eine klare Linie und Meinung. «Das führte zu Spannungen mit dem Verwaltungsrat des Zoos», erzählt Peter Dollinger. So wandte sich Hediger etwa entschieden gegen geplante Forschungsarbeiten des Tropen-instituts. Er wollte verhindern, dass der Zoo mit Infektionserregern in Kontakt kam. Die unterschiedlichen Meinungen führten dazu, dass sich Hediger um die Stelle als Direktor im Zürcher Zoo bewarb – sie erhielt und sie von 1954 bis zu seiner Pensionierung 1974 innehielt.

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«Der Wechsel war für Hediger ein Abstieg, da der Zürcher Zoo wesentlich kleiner war», sagt Peter Dollinger. Er habe aber sofort mit bescheidenen finanziellen Mitteln auch den Zürcher Zoo zu einer wissenschaftlichen Institution ausgebaut. «Während seiner Zeit entstanden das Terrarium, der erste offene Flugraum für Vögel in Europa, eine Zuchtanlage für Europäische Fischotter, das Menschenaffen-,Elefanten- und Afrikahaus», erzählt Peter Dollinger. Hediger habe viel bessere Pläne gehabt, beispielsweise für das Menschenaffenhaus. «Er ist aber vom Zoo-Vorstand aus finanziellen Gründen immer wieder zurückgepfiffen worden.» Durch Heini Hedigers Initiative hat der Zürcher Zoo rasch an Renommee gewonnen.

Logenplatz im Theatrum Dei

Was im Keller bei seinen Eltern begann, betrieb Hediger schliesslich auf höchstem Niveau im Tierpark Bern, im Basler und Zürcher Zoo. Hediger ist mit seinen Forschungen auch heute noch hochaktuell, beantwortete er doch Fragen zum Tierverhalten, zur Tierhaltung und zu zoologischen Gärten, die auch heute immer wieder aufflammen. Schon zu seiner Zeit wollten einzelne Exponenten Zoos abschaffen. Mit sachlichen Argumenten nahm Hediger Zoogegnern schnell den Wind aus den Segeln.

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In Hedigers Zoo sind Tiere keine Gefangenen, sondern Territoriumsbesitzer. Diese Erkenntnis gewann er nicht als Stubenhocker, sondern als Praktiker von Kindsbeinen an, im Zoo und in aller Welt. «Sein Vermächtnis lebt in heutigen Zoos weiter», ist Peter Dollinger überzeugt. Vieles, was Zoos heute betrieben, würde Heini Hediger sehr freuen. «Zahlreiche Zoos reflektieren seine Philosophie.» Er sei dankbar, dass er im grandiosen Theatrum Dei einen Logenplatz einnehmen konnte, schrieb Heini Hediger am Schluss seiner Autobiografie. Hediger war Katholik und hatte einen starken Glaubensbezug. Er beschäftigte sich mit der Symbiose und kam dabei zum Schluss, dass die Wunder der Schöpfung nicht ohne höhere Macht möglich seien. Unvergessen bleibt er nicht nur als Tiergärtner, sondern auch in wissenschaftlichen Gattungs- und Artnamen oder als Beschreiber von Reptilien- und Insektenarten.